Autor: Gerhard Salge, CTO Hitachi Energy

Von Einspeisungsbegrenzungen [1] spricht man, wenn wir bewusst auf die Nutzung von Strom verzichten, den wir durch erneuerbare Energieträger wie Wind- und Solarenergie hätten erzeugen können. Während die Welt versucht, die Ziele von COP28 schrittweise umzusetzen, also die Verdreifachung der Kapazität zur Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien bis 2030 zu realisieren, müssen wir sicherstellen, dass wir so wenig dieser Kapazität zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien wie möglich durch Einschränkungen verschwenden. Der beste Weg, Einspeisungsbegrenzungen zu vermeiden, besteht darin, die Flexibilität der Stromsysteme zu verbessern und erneuerbare Energien und Strombedarf möglich gut auszubalancieren.

Die guten Nachrichten

Die Verdreifachung der Wind- und Solarenergiekapazitäten bis 2030 ist eine grosse Herausforderung, aber machbar, wenn wir heute damit beginnen. Wir verfügen im Prinzip über die erforderlichen Technologien, um in grossem Massstab Strom aus erneuerbaren Energien zu erzeugen, ihn über das Stromnetz zu transportieren und und auch angemessen zu speichern. Darüber hinaus werden wir schrittweise immer besser, wenn es darum geht, eine flexiblere Nachfrage zu schaffen. Wir nutzen digitale Plattformen, um beispielsweise die Ladeinfrastruktur für Elektromobilität zu verwalten, um Warmwasser zu erhitzen oder um unsere Häuser zu kühlen – je nachdem, wann Strom aus erneuerbaren Energien am billigsten und in grossen Mengen vorhanden ist.

Die schlechten Nachrichten

Der Weg zu diesem neuen Energiesystem wird sich nicht von alleine weiterentwickeln. Wir müssen schnell skalieren und verhindern, dass es durch Verzögerungen bei Genehmigungen und Netzanschlüssen zu Engpässen kommt, die die gesamte Energiewende gefährden könnten. Eine derartige Beschleunigung des Infrastrukturausbaus erfordert das Engagement aller Beteiligten.

Was ist eine Einspeisungsbegrenzung?

Vereinfacht ausgedrückt kommt es zu einer Einspeisungsbegrenzung, wenn mehr Strom aus erneuerbaren Energien erzeugt werden kann, als das System gleichzeitig aufnehmen kann. Dies könnte beispielsweise daran liegen, dass es nicht genügend Speichermöglichkeiten gibt, um den aus allen Erneuerbaren erzeugten Strom zu speichern, wenn die Einspeisung am höchsten und der Bedarf niedriger ist. Oder die Ursache liegt in einer Überlastung des Stromnetzes – also in einem Mangel an Übertragungskapazität, um den Strom vom Erzeugungsort dorthin zu transportieren, wo er gerade benötigt wird oder gespeichert werden kann.

Insbesondere bei einer sehr hohen Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien sind aufgrund der Variabilität gewisse Einschränkungen unvermeidlich. Normalerweise handelt es sich dabei um kurze, vorübergehende Situationen. Wenn die Einspeisungsbegrenzungen in einem Stromnetz jedoch systematisch zunehmen, ist dies ein Zeichen für ein systemisches Ungleichgewicht. Während die Investitionen in erneuerbare Energieträger steigen, steigt auch der Investitionsbedarf für die Einhaltung dieses Gleichgewichts für die Minimierung von Einspeisungsbegrenzungen. Und wir haben es auch schon erlebt, dass es mit der Zunahme des Anteils von Strom, der aus erneuerbaren Energien erzeugt wird, im gesamten Stromversorgungssystem zu Einschränkungen kommen kann – sofern nicht vorsoglich in entsprechende Technologien investiert worden ist.

Im vergangenen Jahr wurden mehr als 560 Milliarden Dollar in erneuerbare Energien investiert. Um den Anteil erneuerbarer Energien zu verdreifachen, müssen wir laut Jenny Chase von Bloomberg NEF jährlich durchschnittlich etwa 1,2 Billionen US-Dollar für erneuerbare Energien ausgeben, um das Netto-Null-Ziel zu erreichen. 

Um sicherzustellen, dass sich die Energiewende in einem Tempo entwickelt, das unsere Klimaziele unterstützt, müssen wir dafür sorgen, dass das Energiesystem immer flexibler wird, um diese Ressourcen zu nutzen und um Einschränkungen zu minimieren.

Flexibilität ist die Lösung für Einspeisungsbegrenzungen

Meine Kollegen Alexandre Oudalov und Jochen Kreusel von Hitachi Energy haben zusammen mit Albert Moser, Professor am Institut für Elektrische Anlagen und Netze, Digitalisierung und Energiewirtschaft der RWTH Aachen, kürzlich eine zweiteilige Serie veröffentlicht, in der sie erklären, warum die Flexibilität des Stromsystems ein Schlüsselfaktor der Energiewende ist – und wie eine übermässige Einschränkung der Nutzung erneuerbarer Energien vermieden werden kann.

Kurz gesagt: Durch Flexibilität kann ein Stromsystem jederzeit mit Schwankungen und Unsicherheiten zurechtkommen – zwei Faktoren, die zunehmend zur Realität werden, da unser Stromsystem immer stärker von wetterabhängigen, erneuerbaren Energieträgern gespeist wird. Die Versorgung der Residuallast wird wichtiger und komplexer als je zuvor. Um die rasante Variabilität des zukünftigen, nachhaltigen Stromsystems im Griff zu behalten, sind Flexibilitätsinstrumente von zentraler Bedeutung.

Ein flexibles Energiesystem hat vier Dimensionen, die alle durch digitale Technologien gesteuert werden:

Erzeugungsseitige Flexibilität: Erneuerbare Energieträger wie Sonne und Wind erzeugen Strom wetterabhängig auf variable Art und Weise, ganz anders als die konventionelle, steuerbare Stromerzeugung. Diese Variabilität erfordert digitale Managementtools, wie Planung und Prognose und, falls unvermeidbar, die Begrenzung der Einspeisung.

Nachfrageseitige Flexibilität: Wie auf der Erzeugungsseite ist auch auf der Nachfrageseite eine deutlich grössere Variabilität und geringere Vorhersehbarkeit zu beobachten. Elektrofahrzeuge, sowie elektrisches Heizen und Kühlen bieten Flexibilitätspotenzial, die dezentrale Erzeugung wird immer stärker mit der Nachfrage verknüpft. Der Trend geht dahin, dass die Flexibilität auf der Nachfrageseite zunehmend von Aggregatoren verwaltet wird, die ihre Dienste kommerzialisieren.

Energiespeicher: Die traditionelle Speicherung erfolgte vorwiegend über grosse zentrale Pumpspeicherkraftwerke, doch zu modernen Lösungen gehört die Ergänzung des Systems durch Batterie-Energiespeichersysteme (BESS – Battery Energy Storage Systems) verschiedener Grössen, mit dem technologischen Schwerpunkt auf der Lithium-Ionen-Technologie. Allerdings werden immer noch zusätzliche Speichertechnologien für die saisonale Flexibilität erforscht und entwickelt.

Vernetzte, steuerbare Stromübertragungs- und Verteilungssysteme: Überregional vernetzte Stromsysteme nutzen Flexibilitätsressourcen effizient gemeinsam und reduzieren so den Bedarf an individuellen Flexibilitätsmassnahmen. Um die Flexibilität des Stromsystems in Europa zu verbessern, verlangt z.B. die EU eine Erhöhung der grenzüberschreitenden Verbindungskapazitäten. Verbindungsleitungen erleichtern ausserdem die Integration erneuerbarer Energiequellen und sind für Reservestrommärkte von entscheidender Bedeutung.

Digitalisierung als Katalysator in allen Dimensionen der Stromsystemflexibilität: Die Digitalisierung ist der Schlüssel zum sicheren Betrieb eines flexiblen, nachhaltigen Energiesystems. Dadurch kann das System die Regeln des Energiemarktes einhalten und die Effizienz maximieren. Digitalisierung ermöglicht es, alle Arten von Komponenten sicher mit den Kontrollzentren zu verbinden, und sie ermöglicht eine zuverlässige und belastbare Gesamtsystemverwaltung. Digitale Werkzeuge und Technologien sind für die gesamte Planung, die kurzfristige Prognose und den Echtzeitbetrieb von Energiesystemen von entscheidender Bedeutung.

Alles in allem werden flexible Systeme dazu beitragen, dass wir den Strom, den wir durch die Verdreifachung der erneuerbaren Energien gewinnen, bestmöglich nutzen – und somit die Energiewende auf Kurs halten.

[1] Wenn wir in diesem Artikel von Einspeisungsbegrenzungen sprechen, meinen wir damit die „aktive Einschränkung variabler erneuerbarer Energiequellen (VRES – Variable Renewable Energy Sources)“.