HERAUSFORDERUNGEN UND WICHTIGE WEICHENSTELLUNGEN
Die heutige Stromversorgung stellt elektrische Energie rund um die Uhr und in genügender Menge, Leistung und Qualität bereit. Versorgungssicherheit beim Strom ist zur Selbstverständlichkeit geworden. Diese bedingt einerseits genügend Energieproduktion und -verfügbarkeit zu jedem Zeitpunkt, andererseits auch ein genügend gut ausgebautes und betriebenes Stromnetz. Eine zu 100Prozent erneuerbare Stromversorgung ist vor allem aus Sicht der Wahrung der Versorgungssicherheit eine grosse Herausforderung. Gleichzeitig werden die Märkte in Europa und in der Schweiz liberalisiert, begleitet von einer strengen Regulierung des Netzbereiches mit Kostenkontrolle und Effizienzvorgaben. Und schliesslich verändert sich auch die Verbrauchsseite radikal. Der Verkehr wird elektrifiziert und die fossilen Heizungen werden durch mit Strom betriebene Wärmepumpen ersetzt
Die bisherige Stromproduktion aus Kohlekraftwerken ist stark CO2-belastet. In den letzten Jahren wurden daher erdgasbasierte Kraftwerke favorisiert. Hierbei hat man sich in Mittel und OstEuropa in eine starke Abhängigkeit von Russland begeben. Die politische und wirtschaftliche Dimension wurde nun mit der Ukrainekrise deutlich. Die zukünftige Stromversorgung basiert auf stochastischer Einspeisung von Sonne, Wind und Wasser. Versorgungssicherheit lässt sich entweder durch Überkapazitäten oder Energiespeicherung gewährleisten. Die Stromeinspeisung durch Photovoltaik wird an sonnenreichen Stunden eine Leistung aufweisen, die fünfmal grösser sein wird als der gleichzeitige schweizerische Strombedarf. Es ist anzunehmen, dass die kurzfristige Energiespeicherung Tag – Nacht über Batteriespeicher und Verbrauchssteuerung erfolgt. Wesentlich aufwändiger wird der saisonale Ausgleich von Angebot und Nachfrage sein. Der Weg der Stromspeicherung über synthetische flüssige oder gasförmige Energieträger ist zwar aufwändig und verlustreich. Hohe Umwandlungsverluste lassen sich allerdings angesichts des enormen Angebots an günstiger regenerativer Energie in Europa oder anderen sonnenreichen Regionen der Welt durch zusätzliche Energiegewinnung kompensieren. Im Gleichschritt mit der Umstellung der Stromerzeugung auf regenerative Energieträger werden sich neue Endenergieträger und neue Technologien, wie Brennstoffzellen, Elektrolyseure und Wasserstoffspeicher etablieren. Die Energietransport- und -verteilsysteme werden stärker zusammenwachsen (Konvergenz). Ein gut ausgebautes transeuropäisches Stromnetz, welches die Verschachtelung der stochastischen Produktion ermöglicht, hilft den Bedarf an Energiespeichern so klein wie möglich zu halten.
NETZE
Zwar wurde die Stromübertragung bereits im 19. Jahrhundert entwickelt, aber erst mit dem Zusammenschluss zum europäischen Verbundnetz ab Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die heutige Versorgungssicherheit möglich. Dabei übernimmt das europäische Höchstspannungsnetz das Rückgrat des Stromsystems. Aufwendiger in Erstellung und Betrieb ist aber die Verteilung der Energie bis zum einzelnen Haushalt. Das Verteilnetz lässt sich mit dem weitverästelten Adernetz in unserem Körper vergleichen, von der Aorta bis hin zu den Kapillaren, welche jede einzelne Zelle dauernd mit genügend Sauerstoff und Nährstoffen versorgen. Das Stromnetz besteht aus Spannungsumformern, Schaltanlagen, Frei- und Kabelleitungen. Über 200’000Kilometer Länge misst das gesamte Leitungsnetz in der Schweiz. Netzanlagen sind kostenintensiv. Sie können über eine mittlere Lebensdauer von rund 40Jahren genutzt werden. Heute werden dauernd Teile des Netzes erneuert, verstärkt und ausgebaut. Dabei muss der Netzbetreiber sich auf den Bedarf der nächsten 40Jahre ausrichten. Doch wie sieht dieser Bedarf aus? Die neuen dezentralen Produktionsanlagen, aber auch neue Anwendungen wie die Elektromobilität beanspruchen eine Leistung aus dem Netz, die um Faktoren höher ist als der heutige Leistungsbedarf. Auch die Stromflüsse ändern sich, was die Spannung aus ihrem Normbereich bringen kann. Mit dem Wechsel von zentraler, steuerbarer Produktion hin zu mehr dezentraler, nicht steuerbarer Produktion kann nicht mehr gewährleistet werden, dass der Strom dann produziert wird, wenn er benötigt wird. Das bedeutet, dass vermehrt der Verbrauch an die Verfügbarkeit der Stromproduktion, aber auch an die Netzverfügbarkeit angepasst werden muss. «Smart Grid» ist das Schlagwort, das die Lösung schaffen soll. Dabei sind es nicht primär die Netze, die intelligenter werden müssen, sondern vor allem die Verbraucher. Die Netzbetreiber müssen bei den Kunden vermehrt Akzeptanz für die Steuerung ihrer Anwendungen schaffen. REGULIERUNG Getrieben durch die europaweit voranschreitende Liberalisierung des Strommarktes wird der Netzbetreiber, ausgerechnet in dieser Zeit, in der eine sichere Stromversorgung zur grössten technischen und gesellschaftlichen Herausforderung erwächst, durch zusätzliche neue gesetzliche Vorgaben und Pflichten in seinen Handlungsfreiräumen eingeschränkt. Die mehrheitlich in öffentlicher Hand befindlichen Stromversorgungsunternehmen müssen den Netzbetrieb buchhalterisch und informatorisch trennen von übrigen Tätigkeiten. Die Netzbetreiber sind in der Pflicht, ein sicheres und leistungsfähiges Netz bereitzustellen, und dies mit minimalem Kostenaufwand. Dazu rapportiert der Netzbetreiber jährlich der eidgenössischen Elektrizitätskommission (ElCom) seine Kosten und Tarife und Kennzahlen zur Versorgungsqualität. Weitere Pflichten des Netzbetreibers resultieren aus der Energiestrategie 2050, darunter beispielsweise die Ermöglichung von Zusammenschlüssen zum Eigenverbrauch, die Abnahme und Vergütung von überschüssigem PV-Strom oder die Einführung von intelligenten Mess- und Steuersystemen.
RESUMÉE
Diese impulsgebenden Ausführungen machen deutlich, dass die Stromversorgung vor den grössten Herausforderungen steht. Um das Ziel einer sicheren und erneuerbaren Stromversorgung zu erreichen, braucht es fähige und innovative Fachleute in allen Bereichen:
• im technischen Bereich für Planung, Bau und Betrieb von neuen erneuerbaren Produktionsanlagen, Speicheranlagen und Verteilnetze,
• im wirtschaftlichen Bereich, zur optimierten Bewirtschaftung der Anlagen für nachhaltige und effiziente Mittelverwendung, Aufbau zielführender Geschäftsmodelle,
• im Bereich der Abläufe und der Digitalisierung, wenn es darum geht, regulatorische Vorgaben nicht nur zu erfüllen, sondern innovative Ideen umzusetzen, so dass die Kunden mit ihrer Zustimmung in ein intelligentes Steuer- und Regelsystem eingebunden werden können und so die Versorgungssicherheit in einer erneuerbaren Stromversorgung der Zukunft mit gewährleisten können.
MAS IN ENERGIEWIRTSCHAFT
Der MAS in Energiewirtschaft der Fachhochschule Graubünden ist seit 12 Jahren eine etablierte Grösse in der schweizerischen Weiterbildungslandschaft der Versorgungsindustrie und ist bei angehenden Führungskräften sehr beliebt. Er bietet ein anspruchsvolles Curriculum über alle oben genannten Bereiche. Mit Expertinnen und Experten – wie die beiden Autoren dieses Artikels – aus Praxis und Forschung werden die technischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Aspekte des Energiesystems vertieft. Der Fokus liegt dabei auf der Schweiz, wobei der internationale Bezug ebenfalls sichergestellt wird, da die Energiemärkte letztlich global funktionieren.