Grosse Fensterflächen versorgen Wohn- und Büroräume mit Licht und Wärme. Doch nicht immer ist die Sonne willkommen, beispielsweise wenn sie im Winter tief steht und unangenehm blendet. Dann werden gern Rafflamellen, Rollläden oder ein anderer Typ von Sonnenschutz eingesetzt. Sie halten die Wintersonne fern, verringern gleichzeitig aber auch den Wärmeeintrag ins Gebäude. Eine Studie im Auftrag des Bundesamts für Energie (BFE) hat den letztgenannten Effekt nun quantifiziert – mit teilweise überraschenden Ergebnissen. Die Forscher raten, dem Sonnen schutz bei der Berechnung des Heizwärmebedarfs vermehrt Beachtung zu schenken.

Grosse Fenster sind beliebt. Sie schaffen helle Räume und bringen den Garten und die natürliche Umgebung quasi in die Wohnung. Grosse Fenster haben auch energetische Vorzüge. Sie erlauben gerade im Winter und in der Übergangszeit die Nutzung der in der Sonnenstrahlung enthaltenen Wärme. So erstaunt es nicht, nimmt die Fensterfläche bei Ge
bäuden tendenziell zu. Lag der Glasanteil an der Fassade bis in die 1960er Jahre gewöhnlich in der Grössenordnung von 15 bis 20 %, erreicht er bei modernen Wohn- und Bürogebäuden 40 bis 60 %, in ausgewählten Gebäuden liegt er teilweise noch höher. Passivhaus-Architekten streben danach, mit ihren Gebäudeentwürfen die solaren Wärmegewinne zu maximieren.

Der solare Wärmeeintrag ist ein wichtiger Faktor bei der Planung eines Gebäudes. Er vermindert den Bedarf an Wärme, der mit der Heizung erzeugt werden muss, um in den Räumen jederzeit eine behagliche Temperatur sicherzustellen. Nach der einschlägigen Planungsnorm (SIA-Norm 380 / 1) beachten Bauphysiker und Gebäudetechnikplaner heute nicht nur die Grösse der Fensterflächen. Sie berücksichtigen bei ihren Berechnungen des Heizwärmebedarfs auch Hindernisse, die die Sonneneinstrahlung einschränken, etwa Nachbargebäude oder hervorstehende Balkone. «Heute werden in der Berechnung der Heizwärmebedarfs allerdings nur fixe Verschattungselemente berücksichtigt, nicht aber Rollläden, Rafflamellen, Sonnenstoren (Markisen) oder Klappläden, die ebenfalls eine Verminderung des Solareintrags nach sich ziehen», sagt Martin Ménard, diplomierter Maschineningenieur ETH SIA und Partner der Gebäudeberatungsfirma Lemon Consult AG (Zürich).

Sonnenschutz erhöht Heizwärmebedarf
Vor diesem Hintergrund führte ein Forscherteam von Lemon Consult seit 2016 ein Projekt durch, das quantifiziert hat, in welchem Mass Sonnenschutzsysteme den Wärmeeintrag in Wohn- und Geschäftsgebäuden vermindern – und in der Folge den Heizenergiebedarf erhöhen. Die Untersuchung wurde vom Bundesamt für Energie im Rahmen seines Forschungsprogramms «Gebäude und Städte» finanziell unterstützt.

Doch wie schafft man das Kunststück, den Einfluss von Sonnenschutzsystemen auf den Wärmeeintrag zu bestimmen? Denkbar wären ausgeklügelte Messeinrichtungen auf der Aussen- und Innenseite eines Fensters, um mit diesen den Einfluss des Sonnenschutzes auf den Wärmeeintrag ins Gebäude zu quantifizieren.

Die Forscher von Lemon Consult wählten einen anderen Weg: Ausgangspunkt ihrer Studie ist die in SIA-Norm 380/1 festgeschriebene Berechnungsmethode, mit der Planer heute routinemässig den Heizwärmebedarf von Gebäuden bestimmen. Die Forscher wollten nun wissen, wie man den auf diesem Weg errechneten Heizwärmebedarf korrigieren muss, sofern man die Verschattung durch Sonnenschutzeinrichtungen mit berücksichtigt. Vereinfacht ausgedrückt: Schliesst man bei einer Fassade mit zehn Fenstern bei vier Fenstern die Rollläden, wird der Wärmeeintrag um 40 % vermindert, von 100 auf 60 %. Der Wärmeeintrag muss also um den Verschattungsfaktor 0.6 nach unten korrigiert werden. Der um diesen Faktor verminderte Wärmeeintrag kann dann zur Berechnung des Heizwärmebedarfs herangezogen werden. Die Berücksichtigung der vom Sonnenschutz verursachten Verschattung führt dazu, dass der Heizwärmebedarf höher ausfällt als mit der heutigen Berechnungsmethode, die die Verschattung durch Sonnenschutz ausser Acht lässt

68 Fassaden eine Heizperiode lang beobachte
Die Forscher von Lemon Consult wollten nun wissen, wie gross der Verschattungsfaktor aufgrund von Sonnenschutzeinrichtungen in der Realität ist. Sie wählten 36 Wohn- und 32 Bürogebäude und fotografierten deren Fassaden während des Winterhalbjahres (von Oktober 2016 bis
April 2017) an 49 ausgewählten Tagen jeweils um 9, 12 und 15 Uhr. Auf Grundlage der Fotos bestimmten sie für jeden dieser 147 Zeitpunkte, welcher Anteil der Fensterfläche durch einen Sonnenschutz verdeckt war. Daraus resultierte ein provisorischer Wert für die Verschattung, der noch korrigiert werden musste, da ein Sonnenschutz den Wärmeeintrag a) nicht ganz, sondern nur teilweise verhindert und b) die Anzahl Stunden mit direkter Solarstrahlung höher zu gewichten sind als jene mit nur diffusem Sonnenlicht. Mit den entsprechenden Korrekturen gelangten die Forscher zu dem Befund, dass die Sonnenschutzeinrichtungen den solaren Wärmeeintrag durchschnittlich um rund 10 bis 40 % verminderten. Dies entspricht einem «gewichteten Verschattungsfaktor Sonnenschutz» von 0.9 bis 0.6. Die Grösse des Verschattungsfaktors hängt dabei unter anderem vom Glasanteil der Fassade und der Steuerung (manuell / automatisch) ab (vgl. Foto Seite13 unten).

Mit der Bestimmung des «gewichteten Verschattungsfaktors Sonnenschutz» haben die Wissenschaftler die Voraussetzung geschaffen, um die zentrale Frage zu beantworten, wie stark der Einbezug des Sonnenschutzes den Heizenergiebedarf erhöht. Sie nutzten den Verschattungsfaktor, um exemplarisch den Heizenergiebedarf für 48 Wohn- und Bürogebäude zu berechnen, die nach 2008 erbaut bzw. erneuert wurden und damit den aktuellen Anforderungen bezüglich Energieverbrauch genügen (MuKEn-Standard 2008 oder besser). Diese Berechnungen zeigten: Berücksichtigt man die Verminderung des solaren Wärmeeintrags im Winterhalbjahr aufgrund des Sonnenschutzes, erhöht sich der jährliche Heizwärmebedarf um 6 bis 18 %. Diese Ergebnisse haben Martin Ménard überrascht: «Wir hatten im Vorfeld der Studie mit einem deutlich höheren Anstieg in der Grössenordnung von 40 bis 50 % gerechnet. Vor diesem Hintergrund erachten wir den tatsächlich errechneten Anstieg als relativ gering.» Zwar erscheint eine Zunahme um 6 bis 18 % auf den ersten Blick als nicht unbedeutend. Aber die relative Zunahme fällt nur deshalb so hoch aus, weil der Heizenergiebedarf der betrachteten Gebäude schon sehr tief ist. In absoluten Zahlen ausgedrückt steigt der jährliche Heizwärmebedarf bei Einbezug des Sonnenschutzes um lediglich 1 bis 4 kWh / m2.

Überarbeitung der SIA-Norm 380/1 angeregt
Gebäudeexperten haben immer wieder die Vermutung geäussert, der bei vielen Gebäuden zwischen Planung und Betrieb festgestellte Unterschied beim Energieverbrauch («performance gap») sei unter anderem dadurch zu erklären, dass die in der SIA-Norm 380 / 1 enthaltene Berechnung des Heizenergiebedarfs die solaren Wärmegewinne überschätze, weil die beweglichen Sonnenschutzsysteme nicht einbezogen würden. «Diese Vermutung wird durch die Ergebnisse unserer Studie nun doch etwas relativiert», sagt Martin Ménard. Der Gebäudeforscher weist gleichzeitig darauf hin, dass der Sonnenschutz bei ausgewählten Objekten sehr wohl einen er heblichen Einfluss haben könne. So etwa bei Passivsolarhäusern mit sehr tiefem Heizwärmebedarf und sehr hohen solaren Wärmegewinnen. Hier kann ein auto matischer Sonnensschutz im Extremfall den Heizwärmebedarf um mehr als 100 % erhöhen, wie das Team um Ménard errechnet hat. «Daher wird vorgeschlagen, im Berechnungsmodell SIA 380 / 1 zukünftig Verschattungsfaktoren für den Sonnenschutz einzuführen», schreiben die Wissenschaftler in den Schlussfolgerungen ihrer Studie.

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