In den 1980er-Jahren wurden Hochtemperatur-Supraleiter entdeckt. Seither diskutieren Fachleute, wie sich deren Eigenschaften in der Stromversorgung kommerziell nutzen lassen. Unterdessen zeichnen sich konkrete Anwendungsfelder ab, in denen widerstandslose Stromkabel und weitere supraleitende Netzkomponenten ihre Vorzüge ausspielen können. Eine Roadmap des internationalen Programms «Assessing the impacts of hightemperature superconductivity on the electric power sector» der Internationalen Energieagentur, an dem Schweizer Experten massgeblich mitgearbeitet haben, zeigt die kurz-, mittel- und langfristigen Einsatzgebiete der Technologie auf.
Auf dem Weg vom Kraftwerk zum Konsumenten legt der Strom oft Hunderte von Kilometern zurück. «Durch Übertragungsverluste gehen auf dem Weg bis zu zehn Prozent der transportierten Strommenge «verloren», werden also in thermische Energie umgesetzt, was sich als Erwärmung der Stromleitungen bemerkbar macht», sagt Walter Sattinger, Netzexperte bei der nationalen Netzgesellschaft Swissgrid. Um die Verluste zu minimieren, wird Strom wenn immer möglich bei hohen Spannungen transportiert. So kann die gleiche Energiemenge bei geringerer Stromstärke übertragen werden. Das senkt die Verluste, denn diese wachsen quadratisch mit der Stromstärke.
Der «Trick» zahlt sich aus: In der Schweiz gehen nur knapp ein Fünftel der Übertragungsverluste auf das Hoch- und Höchstspannungnetz (220 Kilovolt, 380 Kilovolt). Absolut betrachtet fallen aber auch diese Verluste ins Gewicht: Auf einer 100 Kilometer langen 380 Kilovolt-Leitung beispielsweise kann die Verlustleistung bei hoher Belastung gegen 10 Megawatt betragen. Das entspricht der Leistung von zwei grossen Windkraftwerken.
Supraleitung lässt Verluste verschwinden
Um Übertragungsverluste zu vermindern, wird seit längerem der Einsatz von supraleitenden Stromkabeln diskutiert und in Testeinrichtungen erprobt. Supraleiter haben die Eigenschaft, dass sie Strom ohne merkliche elektrische Verluste leiten. Damit in Leitern der elektrische Widerstand schwindet, müssen sie stark abgekühlt werden. Für kommerzielle
Anwendungen steht die Hochtemperatur- Supraleitung (HTS) im Vordergrund, die sich in den letzten 10, 15 Jahren stark fortentwickelt hat. Sie beruht auf keramischen Materialien, die supraleitende Eigenschaften bereits bei relativ hohen Temperaturen von 77 Kelvin (– 196 Grad Celsius) annehmen. 77 Kelvin ist die Siedetemperatur von Stickstoff (bei Normaldruck). Da sich Stickstoff einfach verflüssigen lässt und überdies ungefährlich ist, stellt dieser ein ideales Material zur Kühlung von Supraleitern bereit.
Leistungsfähige Stromleitungen transportieren heute bei den in Europa eingesetzten Spannungen bis zu drei Gigawatt. Mit Supraleitern könnte es künftig das Zehnfache sein. Bei solch grossen Strommengen spart das Eliminieren von Übertragungsverlusten mehr Strom als für die Kühlung der Supraleiter aufgewendet werden muss. «Anwendungen mit gut wärmeisolierten Supraleitern belegen, dass trotz der erforderlichen Kühlung Effizienzgewinne möglich sind», sagt Dr. Bertrand Dutoit, Leiter der Gruppe für Angewandte Supraleitung an der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL). Als Beispiel verweist der Forscher auf die ein Kilometer lange Mittelspannungsleitung, die von 2014 bis 2021 in der deutschen Stadt Essen vom Energieunternehmen Westenergie betrieben wurde. Dank ihr konnte der Strom bei niedrigerer Spannung (10 statt 110 Kilovolt) ins Stadtzentrum gebracht werden. Mit dem Kabel des Projekts AmpaCity wurden jährlich 39’000 Megawattstunden Strom transportiert. Die Kühlung benötigte im gleichen Zeitraum 45 Megawattstunden Energie.
Anwendungen mit hohem Technologie-Reifegrad
Ein Gremium aus Expertinnen und Experten, das unter dem Dach der Internationalen Energieagentur arbeitet und an dem die Schweiz beteiligt ist (vergleiche Textbox), hat nun den Entwicklungsstand von HTS-Anwendungen für das Stromnetz abgeschätzt und in einer «Application Readiness Map» (ARM) zusammengestellt. Das Dokument gibt einen Überblick über den Technologie-Reifegrad (Technology Readyness Level / TRL) verschiedener HTS-Anwendungen (vergleiche Grafik 01). Die beteiligten Expertinnen und Experten aus Industrie und Forschung benennen drei Gebiete, in denen die HTS-Technologie bereits einen hohen Reifegrad aufweist: Dazu gehören leistungsfähige Mittelspannungs-Kabel
zur Versorgung von Stadtzentren, so wie sie in Essen im Einsatz waren, aber auch in Südkorea, China und Japan getestet werden. «Supraleiter können bis zu fünfmal mehr Strom transportieren als herkömmliche Kabel gleicher Grösse, das macht sie zu einer vergleichsweise günstigen Lösung zur Versorgung urbaner Gebiete mit ihrem ständig wachsenden Strombedarf», sagt Prof. Carmine Senatore (Universität Genf), der die Schweiz im IEA-Expertengremium vertritt.
Ebenfalls bereit für die kommerzielle Anwendung sind Geräte zur Begrenzung von Kurzschluss-Strömen im Mittel- und Hochspannungsnetz. Diese Fehlerstrom- Begrenzer bremsen hohe Ströme, wie sie für Kurzschlüsse typisch sind, ohne den Stromfluss aber zu unterbrechen. Wird ein supraleitender Fehlerstrom-Begrenzer von einem hohen Strom durchflossen, verliert er bei Überschreiten einer definierten maximalen Strommenge seine Widerstandslosigkeit. Erste Schutzgeräte dieser Art für Hochspannung sind in Thailand und seit Ende 2019 in der Nähe von Moskau im kommerziellen Einsatz. Schon verbreiteter sind die Geräte auf Mittelspannungsebene. Weltweit sind über 20 Anwendungen bekannt. Fehlerstrom- Begrenzer werden auch zum Retrofit älterer Stromnetze eingesetzt, indem sie diese vor Überlastung schützen.
Anbindung von Offshore-Windkraftwerken
Gemäss Einschätzung der Experten gibt es drei Anwendungsbereiche für supraleitende Kabel, die zur Zeit einen mittleren Technologie-Reifegrad aufweisen: Dazu gehören Hochspannungsleitungen für den Transport von Wechselstrom, welche die heutigen Überlandleitungen ersetzen könnten, aber auch neuartige Hochspannungsleitungen für den Transport von
Gleichstrom über weite Strecken. Unterirdisch verlegte Testinstallationen von einigen Hundert Metern entstanden im letzten Jahrzehnt in China, Korea und Japan. Ein 2.5 Kilometer langes 20 Kilovolt-Kabel sollte zudem Ende 2021 in St. Petersburg fertiggestellt werden. Der Bau langer supraleitender Leitungen ist technisch anspruchsvoll. Im flachen Gelände müssen sie alle 10 bis 25 Kilometer mit einer Kühlstation ausgerüstet werden.
Jochen Kreusel ist nicht Partner des IEA-Programms, aber er hat als Stromnetzexperte von Hitachi Energy – einem Joint Venture der Konzerne Hitachi und ABB, das im wesentlichen aus der früheren ABB-Stromnetzsparte besteht – grosse Erfahrung bei der Ausrüstung von Stromnetzen. «Die Faszination der Supraleitung ist nicht neu», sagt Kreusel, «heute aber sind wir in einer Situation, wo diese Technologie tatsächlich zum Durchbruch kommen könnte.» Er verweist auf die Ausbaupläne für Windparks in der Nordsee bis zu einer Gesamtleistung von 450 Gigawatt. «So grosse Strommengen ans Land zu bringen, stellt uns vor neue Herausforderungen. Zwar ist dies auch mit heutiger Kabeltechnologie möglich, wenn sie genug grosse Kabel einsetzen, aber leistungsstarke Supraleitungskabel hätten hier ein ideales Einsatzgebiet», sagt der Industrieexperte.
Massives Veränderungspotenzial
Die Experten haben weitere Gebiete ausgemacht, in denen die HTS-Technologie mittel- oder langfristig zum Einsatz kommen könnte: So die Verbindung mehrerer Mittelspannungsnetze zur Erhöhung der Versorgungssicherheit, der Einsatz von Mittelspannungskabeln zum Retrofit bestehender Erdkabel, ebenso beim Bau neuartiger Transformatoren.
Bis supraleitende Kabel und Komponenten für den breiten, kommerziellen Einsatz in Stromnetzen bereitstehen, sind noch technische, ökonomische und regulatorische Hürden zu nehmen. Trotzdem trifft die Roadmap einen Nerv der Zeit, davon ist Jochen Kreusel von Hitachi Energy überzeugt: «Die Supraleitung ist unterwegs in Richtung grosstechnischer Anwendung. Als Industrieunternehmen, das Schaltanlagen und Transformatoren herstellt, beobachten wir diese Entwicklung sehr sorgfältig, denn wenn sich die Supraleitungstechnologie durchsetzt, hat sie ein massives Veränderungspotenzial für die ganze elektrische Energieversorgung.»
Schweiz engagiert sich in der Hochtemperatursupraleitung
Hinter dem Kürzel IEA HTS TCP verbirgt sich eine international zusammengesetzte Expertengruppe, die unter dem Dach der Internationalen Energieagentur (IEA) arbeitet. Die IEA unterhält rund 40 «Technology Collaboration Programs» (TCP), darunter das Programm «High Temperature Superconductivity» (HTS). In der Expertengruppe sind neben der Schweiz acht weitere Staaten vertreten, darunter die USA, Japan und Deutschland. Die Gruppe hat sich nach eigener Darstellung der Aufgabe verschrieben, «den Status und die Aussichten für die künftige Nutzung von HTS im Elektrizitätssektor der Industrie- und Entwicklungsländer zu bewerten und diese Ergebnisse an Entscheidungsträger in den Regierungen, im Privatsektor und in der Community zu Forschungs- und Entwicklung (F & E) weiterzugeben. Schweizer Vertreter im IEA HTS TCP sind Prof. Carmine Senatore (Universität Genf) und Roland Brüniger (R. Brüniger AG – Engineering & Consulting). BV
Weitere Informationen unter
www.ieahts.org